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Text: Im Original von Peter Spork (umgeschrieben von Nadja Brenneisen)

Die ersten 1000 Tage im Leben eines Kindes – von der Zeugung bis zum Ende des zweiten Lebensjahres – sind entscheidend für seine Gesundheit. Doch diese besondere Zeit beginnt nicht erst mit der Geburt, sondern schon viel früher: bei der Vorbereitung auf eine Schwangerschaft und dem Lebensstil der Eltern. Wie Ernährung, Bewegung und Umweltfaktoren in diesen sensiblen Phasen die Gesundheit deines Kindes prägen können, zeigt die faszinierende Forschung zur Zellerinnerung.

Erinnerungen sind zunächst neutral gespeicherte Informationen, die erst durch emotionale Bewertung und Interpretation eine bestimmte Bedeutung bekommen. Sie sind also nicht per se schlecht oder gut, sondern erhalten ihren Charakter durch unsere innere Haltung, die Umstände der Erinnerung und deren Einbettung in unsere Lebensgeschichte. Erinnerungen werden erst dann problematisch, wenn sie nicht als vergangen erlebt werden können, sondern das Erleben der Gegenwart bestimmen oder blockieren.

Doch was, wenn sich nicht nur Geist und Nervenbahn erinnern, sondern auch jede einzelne Körperzelle? Was, wenn sie festhält, wie wir früher gelebt, gegessen, geatmet haben – und daraus Programme formt, die unseren Stoffwechsel, unseren Appetit und so unsere Gesundheit und die unserer Kinder prägen? Diese Idee mag verblüffen, doch genau hier setzt die Forschung zur Zellerinnerung an. Sie zeigt: Gesundheit beginnt nicht erst mit den ersten Löffeln Brei, sondern schon Monate vor der Zeugung. Und die Erinnerung an diese erste Zeit, ist tief in jede Zelle eingebrannt.

Besonders empfindlich für prägende Einflüsse sind Zellen in den ersten tausend Tagen im Leben – das heisst, von der Zeugung bis etwa dem Ende des zweiten Lebensjahres. Dann entwickeln sich die Organe, und dafür benötigen sie Signale aus ihrer Umgebung und Impulse von Lebensstil und Umwelt.

Süsse Zellerinnerung

Viele Zell-Programme, die unsere Gesundheit zeitlebens mitbeeinflussen, werden deshalb erstaunlich früh im Leben verankert. Tadeja Gracner und Kolleginnen und Kollegen von der University of Southern California in Los Angeles, USA, werteten im Herbst 2024 einen regelrechten Schatz an Daten aus. Sie publizierten im Fachblatt Science Belege dafür, dass ein erhöhter Zuckerkonsum in den ersten tausend Tagen das spätere Erkrankungsrisiko massiv erhöhen kann.

Anfang der fünfziger Jahre war in England Zucker rationiert. Die Menschen konsumierten im Mittel nur 40 Gramm Zucker täglich. Nach dem Ende der Begrenzung verdoppelte sich der Verbrauch schlagartig. Die Forschenden analysierten nun Angaben zur heutigen Gesundheit jener Menschen, die in der damaligen Zeit geboren worden sind.

Dabei zeigte sich, dass solche Personen, die im Mutterleib und der frühen Kindheit wenig Zucker erhielten, Jahrzehnte später gesünder waren als die anderen. Das langfristige Risiko für Typ-2-Diabetes sank um 35 Prozent, das Bluthochdruckrisiko lag ein Fünftel niedriger, wenn in den ersten tausend Tagen weniger Zucker in der Nahrung war.

1000 erste Tage – Grundlage der Gesundheit

Mindestens mitverantwortlich für solche Phänomene ist das Gedächtnis der Zellen. Unsere Gesundheit ist eines der komplexesten Merkmale überhaupt. Sie wird nicht nur vom Text der Gene bestimmt, sondern auch vom Lebensstil und Einflüssen aus der Umwelt. Und sie wird geprägt durch unsere Vergangenheit.

Diese Vergangenheit beginnt im Grunde schon Wochen vor der Zeugung, denn die Spermien der Väter merken sich, wie diese leben. Ganz wichtig ist auch der Lebensstil der Mutter, der die Epigenetik unserer Zellen zum Beispiel über Hormone verändert, die via Plazenta und Nabelschnur in unseren fetalen Blutkreislauf gelangen. Es gibt sogar Hinweise, dass sich auch das Gedächtnis der Spermien und Eizellen verändert und epigenetische Umweltanpassungen bis in die Generation der Urenkel wirken können.

Je früher eine «gesunde Signatur» in die Zellen geschrieben wird – vom Lebensstil der Eltern vor der Zeugung bis zu den hormonellen Impulsen im Mutterleib – desto grösser ist die Chance, dass der Körper des Kindes ein Leben lang davon profitiert. Doch diese epigenetischen Notizen sind kein statisches Tagebuch. Sie werden Zeile für Zeile ergänzt, jedes Mal wenn wir essen, schlafen, uns bewegen oder eben gerade nicht.

Und genau hier wird es konkret: Denn je häufiger eine bestimmte Botschaft an die Zellen gesendet wird, desto tiefer brennt sie sich ein. Ein Überangebot an Kalorien ist dafür ein eindrückliches Beispiel.

Die Fettzellen haben dann richtig viel zu tun. Sie angeln sich Fettsäuren aus dem Blut und vergrössern ihren Energiespeicher für harte Zeiten. Gleichzeitig schicken sie Botenstoffe in den Körper. Für diese Arbeit lesen sie eine Reihe von Genen ab. Nach deren Bauplan produzieren sie Biomoleküle, die für ihre Arbeit wichtig sind. Sie laufen im Programm für «fette Zeiten».

Wenn sich Fettzellen erinnern

Entscheidend für ihren Stoffwechselmodus ist der Satz an Genen, den die Fettzellen benutzen. Während Fastenzeiten oder wenn jemand viel Sport macht, schalten sie um. Dann werden ganz andere Gene abgelesen. Die Zellen geben nun Fettsäuren frei, damit die Leber diese in Zucker umwandelt und via Blutkreislauf als Treibstoff ans Gehirn, die Muskeln und andere Organe liefert.

Ernährt sich eine Person unausgewogen und zu kalorienreich, bewegt sie sich zudem zu wenig, hat permanent Stress und schläft schlecht, dann speichern ihre Zellen irgendwann ab, welche Gene sie am meisten benötigen, um den ungesunden Lebensstil zu bewältigen. Die Zellen bauen die Umgebung ihrer Gene so um, dass manche leichter abgelesen werden können als andere.

Jede unserer Billionen Körperzellen hat also eine Art Gedächtnis, mit dem sie sich daran erinnert, was angesichts unseres aktuellen Lebensstils ihre wichtigsten Aufgaben sind. Dieses Erinnerungsvermögen hilft unserem Körper, sich an wechselnde Umweltbedingungen vergleichsweise rasch anzupassen. Diese Erkenntnis ist zwar vergleichsweise neu, hat sich aber schon weit herumgesprochen: Laut der Sanitas Health Forecast-Studie glauben fast drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer an ein Erinnerungsvermögen der Zelle.

Das ist der Grund, warum Menschen mit starkem Übergewicht sich so schwertun, abzunehmen. Das Gedächtnis ihrer Zellen bleibt hartnäckig im Fettspeichermodus.

Und selbst wenn Menschen erfolgreich abgenommen haben, erinnern sich die Zellen an den Zustand vor der Diät. Sie signalisieren dem Körper, er solle wieder Reserven einlagern. Das steigert den Appetit und senkt den Energieverbrauch. Das Resultat ist der berühmt-berüchtigte Jo-Jo-Effekt – also das Phänomen, dass Menschen nach einer erfolgreichen Diät in der Regel rasch wieder ihr vorheriges Körpergewicht annehmen oder sogar noch mehr wiegen als zuvor.

Aber: Wir sind keine Opfer unserer Gene. Die epigenetischen «Randnotizen» am Buch unserer Gene werden nicht in Stein gemeisselt, sondern eher mit Bleistift hineingeschrieben – und lassen sich zeitlebens korrigieren. Jede Mahlzeit, jede Stunde Schlaf, jede Portion Bewegung radiert ein wenig Altes weg und setzt neue Akzente. Das gilt für uns selbst – und noch stärker für die nächste Generation, deren Zellgedächtnis in den ersten 1000 Tagen besonders aufnahmefähig ist. Wer jetzt bewusst auf seine Gesundheit achtet, schreibt die erste, vielleicht wichtigste Zeile im Gesundheitskapitel seines künftigen Kindes.

Dieser Artikel ist in seiner ursprünglichen Form im Sanitas Health Forecast erschienen.

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